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Life Cycles – neue Perspektiven der Haute Cuisine

Die #50BestTalks in San Sebastián

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Vom Samenkorn über nachhaltige Wertschöpfungsketten bis hin zur radikalen Neudefinition von Geschmack und Genuss – in San Sebastián haben sich die einflussreichsten Chefs der Welt getroffen, um das Thema Life Cycles zu diskutieren.

 

 

Die #50BestTalks, präsentiert von Miele, sind ein Inkubator neuer, bahnbrechender Ansätze der gastronomischen Szene. Über die letzten Jahre haben sich die Talks, die einst als kleiner, exklusiver Gesprächskreis begonnen haben, zu einer festen Institution von internationalem Format entwickelt.

 

Im Rahmen der diesjährigen The World’s 50 Best Restaurants Award-Verleihung trafen einige der bekanntesten und einflussreichsten Küchenchefs zusammen, um im renommierten Basque Culinary Center neue kulinarische Konzepte zu präsentieren, alte Sichtweisen zu überdenken und Diskurse anzustoßen, die sich einer nachhaltigen, besseren und vielfältigeren Zukunft des Kochens verschreiben. 

 

Life Cycles – die Kreisläufe des Lebens – waren das zentrale Thema, um das sich die Vorträge, Interviews und Kochevents von herausragenden Küchenchefs wie Clare Smyth, Gaggan Anand und Dan Barber drehten.

 

Deutlich wurde vor allem, dass sich in der Welt des Fine Dining ein Paradigmenwechsel abzeichnet. Die Wahrnehmung und die Wertschätzung scheinbar alltäglicher Produkte rückt in den Vordergrund. Luxuszutaten wie Fleisch, Importprodukte und Raritäten verlieren an Gewicht. In einer globalisierten Welt ist es kein Problem mehr, Schwarzmeerkaviar an jedem Ort der Welt zu servieren. Die Herausforderung liegt vielmehr in der kreativen und innovativen Nutzung lokaler Zutaten und ihrer Reduktion auf wesentliche Aromen und Geschmackskomponenten.

 

Welche Wertschöpfungsprozesse liegen hinter einem Weltklassemenü? Wie entsteht wirklich guter Geschmack? Wie lässt er sich beeinflussen? Wie kann man die Wahrnehmung von Essen, das Verständnis von Geschmack aufbrechen und neu definieren?

 

Diese und viele weitere Fragen sind es, die die Redner der #50BestTalks antreiben, eine neue Form von Spitzengastronomie zu entwickeln. Ganzheitlich und innovativ, wertschätzend, regional und in enger Kooperation mit Landwirten, Produzenten und Lieferanten entstand in San Sebastián ein Bild einer anderen, wünschenswerten Zukunft der gehobenen Küche.

Chefs for Change: Gestation - Wertschätzung beginnt beim Anbau

 

Mit Chefs for Change hat die NGO Farm Africa, die sich für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen afrikanischer Landwirte einsetzt, eine Brücke zwischen Spitzengastronomie und Landwirtschaft in Entwicklungsländern gebaut.

 

Niemand geringeres als Joan Roca, Gaggan Anand und Eneko Atxa haben gemeinsam mit Nicolas Mounard, dem CEO von Farm Africa, aufgezeigt, dass eine vielseitige, nachhaltige Haute Cuisine ohne die aktive Förderung und Unterstützung der Landwirte in den Entwicklungsländern nicht möglich ist.

 

Joan Roca, mit seinem El Celler de Can Roca auf Platz 2 der World’s 50 Best Restaurants Liste, sagte dazu: „Ein Gericht ist so viel mehr als die bloße Summe seiner Zutaten. Wenn wir uns mit der Herkunft und dem Anbau der Produkte auseinandersetzen, dann sehen wir, dass jedes Produkt von einer Vielzahl von Menschen abhängig ist, die die Zutaten auf ihrem Weg vom Feld auf den Teller begleiten. Die Chefs for Change-Bewegung möchte diesen Menschen eine Stimme geben und ihnen die Kraft verleihen, zu wachsen. (...) Wir können die Welt kochen, die wir uns wünschen!“

 

Gaggan Anand, der im Frühjahr mit seinem Restaurant Gaggan zum vierten Mal in Folge zum besten Restaurant Asiens gewählt wurde, ergänzt: „Ich bin stolz, als Speerspitze einer Bewegung fungieren zu können, die dazu beiträgt, kleine Lebensmittelproduzenten zu stärken und ihre Lebensumstände zu verändern. Menschen, ohne die mein Beruf nicht denkbar wäre.“

Clare Smyth: Birth – einfache Zutaten, herausragende Küche

 

Dass sich Fine Dining hauptsächlich durch die Verwendung von Luxusgütern auszeichnen muss, ist eine Mär, die Clare Smyth eindrucksvoll auf der Bühne widerlegt hat. Mit dem Core führt Smyth eines der erfolgreichsten neuen Restaurants des Vereinigten Königreiches und hat sich voll und ganz der regionalen, zutiefst britischen Küche verschrieben.

 

Von den Zutaten über die Messer, die Küchenutensilien bis zum Geschirr verlässt sich Clare Smyth auf eine enge Zusammenarbeit mit britischen Unternehmen, Landwirten, Bauern, Jägern und Produzenten. Aus der bodenständigen, deftigen Küche ihrer Heimat entwickelt Smyth vielfach preisgekrönte Gourmet-Menüs.

 

Lamb carrot – Lammfleisch auf einer einfachen Feldkarotte angerichtet, ist eines der bekanntesten Gerichte von Clare Smyth, das sie dem Publikum in der Miele live-Küche auf der Bühne der #50BestTalks zubereitete.

Der Kreislauf der Zutaten sowie die gesamte Philosophie von Smyths Laden kulminiert in diesem scheinbar einfachen Gericht. Es wird nichts weggeschmissen, die Produkte in ihrer Ganzheit wertgeschätzt und verwendet.

„Viele Gerichte reflektieren die Art, wie wir essen. Warum halten wir Spargel für wertvoller als eine Kartoffel? Als Köche haben wir die Aufgabe, die Menschen darüber aufzuklären. Es geht nicht nur um Luxusprodukte und Delikatessen, sondern darum, ihnen zu zeigen, wie köstlich und besonders die ganz alltäglichen Zutaten sein können.“

Dan Barber – Breeding – Die Saat des guten Geschmacks

 

Dan Barber gehört mit Sicherheit zu den einflussreichsten Stimmen der momentan stattfindenden gastronomischen Revolution. Im Upstate New York kocht er Menüs, basierend auf einfachsten Zutaten, immer auf der Suche nach dem perfekten Geschmack einer Frucht, eines Gemüses, einer Wurzel. Fleisch ist Nebensache, Feldfrüchte aus eigenem Anbau spielen die Hauptrolle. Diesen Weg beschreibt Barber als die Fahrt auf einem Highway, der gesäumt ist mit hunderten interessanten Ausfahrten. Es komme jedoch darauf an, sich nicht ablenken zu lassen und sich für einen ganz bestimmten Weg zu entscheiden. Hat man diesen erst einmal eingeschlagen, so lohnt es sich, ihn weiter und weiter zu verfolgen.

 

Für Dan Barber bedeutete dies, sich nicht nur in den eigenen Gärten mit Zutaten zu beschäftigen, sondern noch einen Schritt weiter zu gehen – zur Zucht und Entwicklung von Saatgut.

 

Im Gespräch mit der Journalistin Laura Price sprach Barber von der von ihm gegründeten Row 7 Seed Company, die er gemeinsam mit Saatgutentwicklern gegründet hat. Entgegen der großen multinationalen Konzerne ist es das Ziel dieses Unternehmens, Saatgut zu entwickeln, dass sich mit der Maximierung von Geschmack und Qualität einer Pflanze befasst, statt diese auf maximalen Ertrag auszurichten.

 

„Die Samen sind die Blaupause eines guten Produktes. Wir sind hier, um die Aromen und Geschmäcker zu erzeugen, die wir lieben. Niemand möchte überall dieselbe Geschmackserfahrung machen. Darum bin ich hier: um die Spitzengastronomie als experimentelle Form der Küche zu verteidigen.“

Paul Pairet: Understanding – die Neuerfindung des Geschmacks

 

Mit seinem avantgardistischen Restaurant Ultraviolet in Shanghai hat sich Paul Pairet den Ruf eines Pioniers erworben.

„Um in der Küche Bestleistungen zu erzielen, wollte ich mich von allen nur denkbaren Beschränkungen lösen. Das Ultraviolet ist deswegen ein Stück weit eine kleine Diktatur geworden, aber nur, um das bestmögliche Menü kreieren zu können. Wir versuchen, Erinnerungen wiederherzustellen, Referenzen, Abdrücke im Gedächtnis wachzurufen. Dazu haben wir dem Gast die Kontrolle abgenommen, um ihm die Erwartungen zu entziehen und ihn dazu zu bringen, sich der Erfahrung vollkommen unvoreingenommen zu stellen.“

 

Dieser radikale Ansatz basiert auf Pairets Theorie des „Psycho-Taste“.

„Psycho-Taste ist alles, alles Mögliche, nur nicht der Geschmack selbst. Es ist der Geschmack des Geschmacks.“

 

Die Veränderung und Beeinflussung sämtlicher Sinneswahrnehmungen seiner Gäste führt diese zu einem Geschmackserlebnis, dass nicht von der herkömmlichen Wahrnehmung gesteuert wird. Die Manipulationen des Umfeldes, der Geräusche, Gerüche und Geschmäcker, die bewusste Täuschung und Irreführung schaffen Platz für eine neue Wahrnehmung von Zutaten, die es vermag, auch langfristig dafür Sorge zu tragen, dass die Gäste des Ultraviolet ihre Gewohnheiten bezüglich der sie umgebenden Produkte nachhaltig infrage stellen.

Christina Tosi: Indulgence – Glück in Keksform

 

Vom Samenkorn, das den guten Geschmack eines Gemüses maßgeblich bestimmt, hin zu den Landwirten, die diese anbauen über die Verwendung traditioneller Zutaten mit regionalem Charakter bis zur avantgardistischen Dekonstruktion einer Speise und ihrer Wahrnehmung – Life Cycles, Lebenskreisläufe, ziehen sich durch die gesamte Welt der gehobenen Küche. Immer häufiger richten deren Küchenchefs das Augenmerk auf die vielfältige Welt, die sich hinter den Zutaten und Produkten verbirgt und schaffen eine bessere, weil ganzheitlichere Fine Dining-Kultur.

 

Im letzten Teil der #50BestTalks stand schließlich der Genuss im Mittelpunkt.

Die Gründerin der New Yorker Milk Bar, Christina Tosi, ist mit ihren legendären Cookie- und Kuchenkreationen der Star der Pastry-Szene. Für ihre sinnlichen Nachspeisen hat sie Geschmäcker eingefangen, die die Erinnerung an die süßen Genüsse der Kindheit wiederspiegeln. „Desserts haben eine ganz besondere Eigenschaft: sie machen Menschen glücklich!“

 

Und von dieser wunderbaren Eigenschaft durften sich die Gäste in diesem letzten Panel der #50BestTalks selbst überzeugen. Während des Gesprächs mit 50Best Group Editor William Drew stieg den Gästen der verführerische Duft von Tosis berühmten Confetti Cookies in die Nase, die diese in den Öfen der Miele Live-Küche gebacken hatte.

 

Mit einem noch warmen Cookie in den Händen schloss sich für die Gäste der Life Cycle der #50BestTalks und zeigte einmal mehr, dass der buchstäbliche Blick über den Tellerrand nicht nur aufschlussreich und spannend ist, sondern glücklich macht.

 

Autor: Philipp Gosselck
Photos: © Cristopher Santos, ©Timo Roth